30.01.2024
Ich fühle mich schuldig
„Das Schuldgefühl hindert uns daran, die Dinge klar zu sehen.”
(Doris May Lessing)
Das Thema Schuld und sich schuldig zu fühlen ist tief mit unserem Mensch-Sein verbunden ist. Wie Schuldgefühle entstehen können und wie ein gesunder Umgang mit ihnen gelingen kann – davon handelt dieser Impuls.
1. Schritt: Blick auf die Situation
Ich bin im Gespräch mit Johannes. Er erzählt: „Ich bin Führungskraft und sehe, wie viel meine Mitarbeiter zu tun haben. Oft gehen sie über ihre Grenzen hinaus. Dagegen habe ich von außen betrachtet einen ruhigeren Job. Ich muss strategisch denken und Weichen stellen – das sieht weniger stressig aus, ist es aber für mich nicht. Denn meine Entscheidungen haben Auswirkungen auf meine Mitarbeiter. Dennoch fühle ich mich oft schuldig, weil ich denke, ich müsste mehr tun.“
2. Schritt: Wie Schuldgefühle in uns wirken
Ich frage Johannes: „Wenn du dich schuldig fühlst, tauchen dazu irgendwelche Erinnerungen in dir auf?“ Er überlegt: „Jetzt, wo du fragst, erinnere ich mich an einen Lehrer von früher, der oft hinter mir stand und mich kritisch beäugte. Ich hatte Angst davor, einen Fehler zu machen und strengte mich sehr an, dies zu vermeiden. Ich sehe noch seinen erhobenen Zeigefinger, wenn ich etwas falsch gemacht habe. Dann fühlte ich mich immer schuldig.“
Meine Gedanken: Auch wenn der Lehrer heute nicht mehr lebt, wirkt der kritische Blick des Lehrers und sein erhobener Zeigefinger bis heute nach.
„Heute sind es meine Mitarbeiter, mein Chef und meine Kollegen, die den Lehrer von damals ersetzen. Ich spüre am Schreibtisch den erhobenen Zeigefinger meiner Mitarbeiter und phantasiere, dass sie sich fragen: Was macht der eigentlich? Der sitzt doch nur herum.“ Unbewusst erinnert sich Johannes an die Situation von früher und er denkt:
„Streng dich an! Mache etwas! Gib keinen Anlass zu Kritik.“ Wenn wir Schuld fühlen, haben wir zuvor Gedanken, Erinnerungen und Bewertungen in uns, die diese Gefühle auslösen.
Meine Gefühle: „Dein Gefühl ist also eine Konsequenz deiner Erinnerung und deiner unbewussten Bewertung der Situation. Was fühlst du noch? Gibt es weitere Gefühle in der Situation?“, frage ich.
„Ja, ich fühle mich überfordert, habe Angst und stehe unter Stress. Es entsteht ein richtiges Druckgefühl in der Herzgegend.“
Mein Verhalten: Wenn wir uns derart schuldig fühlen, treibt das Gefühl uns an und wir handeln dann aus diesem Gefühl heraus. „Ich bin dann wie innerlich erstarrt. Das führt dazu, dass ich mich noch mehr anstrengen will. Das blockiert mich zusätzlich“, erzählt Johannes.
3. Schritt: Was ist JETZT dran?
Gemeinsam überlegen wir, was Johannes im Umgang mit dieser Dynamik helfen kann. Wichtig ist dabei, das Gefühl zu entwickeln, Optionen zu haben. Denn diese Erkenntnis vermindert das Gefühl der Ohnmacht und stärkt die Selbstwirksamkeit.
- Change it: „Du bleibst also sitzen, wenn du dieses Gefühl in dir spürst?“, frage ich Johannes. „Ja.“ – „Was würde dir konkret in dieser Situation helfen?“ – „Mir könnte es helfen, aufzustehen, um aus dem Gefühl der Erstarrung zu kommen“, überlegt Johannes. „Fällt dir noch etwas ein?“, frage ich. Johannes kommen weitere Ideen in den Sinn: „Mich bewegen, um die Anspannung abzuschütteln oder eine Atemtechnik aus dem Yoga oder auch eine Klopftechnik, die ich einmal gelernt habe.“ Diese Ideen können in der akuten Situation helfen, die alte Dynamik zu unterbrechen und aus dem Gefühl der Erstarrung zu gelangen.
- Love it: „Was wünschst du dir, wenn das Gefühl der Schuld in dir aufsteigt?“, frage ich Johannes. „Ich glaube in erster Linie, mein Schuldgefühl schnell wieder loszuwerden. Deshalb strenge ich mich noch mehr an.“ Intuitiv wollen wir dieses Gefühl nicht und kämpfen dagegen an. Solange dies der Fall ist, hat es jedoch Macht über uns. „Vielleicht hilft es dir, dein Schuldgefühl zu bejahen, wenn es da ist. Wenn du anerkennst, dass das Schuldgefühl zu dir gehört und ein Teil von dir ist, hat es nicht mehr so viel Macht über dich.“ Wenn wir lernen, unser Schuldgefühl als einen Teil von uns anzunehmen, hören wir auf damit, gegen das Gefühl und damit auch gegen uns selbst zu kämpfen. Vielleicht hilft hier auch der Glaube: Wenn man gläubig ist, kann man sich von Gott Vergebung zusprechen lassen und um Heilung und Versöhnung bitten.
- Leave it: Wenn der Leidensdruck nicht abnimmt, ist es eine Option, die Situation zu verlassen. „Ich habe demnächst ein Gespräch mit meinem Vorgesetzten. Ich überlege mir, ob ich ihn darauf ansprechen werde, ob es Alternativen zu meinem bisherigen Aufgabenfeld gibt.“ Vielleicht hilft es schon, sich die Erlaubnis zu geben, den Posten verlassen zu können, wenn die Befürchtung da ist, dass das Schuldgefühl auf Dauer krank machen könnte.
Fazit
Am Ende resümiert Johannes: „Der Gedanke, in der Situation aufzustehen, um das Muster von früher zu durchbrechen, war jetzt neu für mich und hilft mir. Ebenso wie der Impuls, das Schuldgefühl anzuerkennen als einen Teil von mir. Das werde ich bei der nächsten Gelegenheit üben.“